Jan Nepomnjaschtschi geigt auf.

Foto: APA/AFP/PIERRE-PHILIPPE MARCOU

Fabiano Caruana hält bei 5 aus 7.

Foto: APA/AFP/PIERRE-PHILIPPE MARCOU

Irgendjemand scheint Jan Nepomnjaschtschi ausgewechselt zu haben. Vergangenen Dezember war der Russe in seinem WM-Match mit Magnus Carlsen noch in einer Weise untergegangen, die bei Zuschauern Fremdschämen auslöste: Nach einer Reihe unerklärlicher Patzer des Herausforderers stand es am Schluss 7,5:3,5 für den Weltmeister aus Norwegen.

Ein halbes Jahr später geigt "Nepo" nun beim Kandidatenturnier in Madrid groß auf. Zu Halbzeit des Turniers notierte er bei fabulösen 5,5 aus 7, die sich aus vier Siegen bei drei Remis ergaben: ein unfassbar starkes Resultat angesichts der im Turnier versammelten Weltklasse.

Auf den Fersen war ihm bis zur Turniermitte allein Fabiano Caruana, der zu diesem Zeitpunkt bei auch nicht üblen 5 aus 7 hielt. Der Italo-Amerikaner war 2018 ebenfalls bereits in den Genuss eines WM-Matches gegen Carlsen gekommen und damals erst im Schnellschach-Tiebreak gescheitert.

Aus acht mach drei

Zur Halbzeit sah es in Madrid ganz danach aus, als ob Nepomnjaschtschi und Caruana sich den Sieg untereinander ausmachen würden, so viel Vorsprung hatten sie bereits auf den Rest des Feldes. Da Caruana Sonntagabend in Runde 8 nach langem Kampf jedoch seinem drittplatzierten Landsmann Hikaru Nakamura unterlag, verlor er weiteren Boden auf den führenden Russen und musste "Naka" auf einen halben Punkt an sich herankommen lassen.

Die Analyse von Großmeister Markus Ragger.
Österreichischer Schachbund

Dass in Madrid wohl nur noch die beiden ehemaligen WM-Kandidaten Nepomnjaschtschi und Caruana sowie Routinier Nakamura Chancen auf den Sieg haben, dürfte Magnus Carlsen nicht freuen. Der Weltmeister hatte im Vorfeld angekündigt, seinen Titel, wenn überhaupt, nur gegen ein neues Gesicht, am liebsten gegen den erst 19-jährigen Alireza Firouzja, verteidigen zu wollen. Carlsens Kronprinz hielt dem Druck der Erwartung in Madrid bisher jedoch nicht stand und kassierte zwei Niederlagen bei sechs Remis.

Das könnte bedeuten, dass in Madrid nun de facto um zwei statt wie vorgesehen nur um ein WM-Ticket gespielt wird. Macht Carlsen seine Drohung wahr, dann stünde im Frühling 2023 nämlich ein Match zwischen dem Erst- und dem Zweitplatzierten des Kandidatenturniers um einen durch den Rücktritt des Weltmeisters sportlich abgewerteten WM-Titel bevor.

Reminiszenzen aus Reykjavík

Dass einander ein Russe und ein Amerikaner bei einer Schach-WM gegenübersaßen, ist 50 Jahre her. Es war 1972, mitten im Kalten Krieg, in Islands Hauptstadt Reykjavík, in der Bobby Fischer und Boris Spasski ihr "Match des Jahrhunderts" spielten. Ein solches dürfte von Nepomnjaschtschi und Caruana (oder Nakamura) im Fall der Fälle nicht zwingend erwartet werden. Vor dem Hintergrund der aktuellen geopolitischen Lage hätte die Sache aber schon Pfeffer.

Mit Platz zwei im Kandidatenturnier wird sich dennoch keiner der drei zufriedengeben, der Kampf um den Turniersieg könnte noch spannend werden – vor allem dann, wenn es Caruana gelingen sollte, den Führenden im zweiten direkten Duell in Runde 9 mit den weißen Steinen zu bezwingen.

Schließlich kann Magnus Carlsen seine Meinung jederzeit ändern. Und dann zählt in Madrid doch wieder nur der Sieg. (Anatol Vitouch, 27.6.2022)